Das Leben: Eine grosse Warteschleife!


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Im Grunde warten wir ständig: auf ein Ergebnis, auf eine Diagnose, auf den Zug oder auf eine Antwort per Mail oder auf die grosse Liebe, auf das Ende einer langweiligen Sitzung oder auf den Start einer aufregenden Karriere. Wir warten auf bessere Zeiten oder den Weltuntergang, auf einen Geburtstermin oder den Tod. Warten – manchmal haben wir Angst dabei, manchmal sind wir voller Hoffnung. Wer Kinder hat, kennt das: Schon nach wenigen Reisekilometern im Auto geht’s los: «Mama, wann sind wir endlich da?» Ob man «bald» sagt oder «in drei Tagen», macht kaum einen Unterschied: Ein paar Minuten Ruhe, schon tönt’s wieder vom Rücksitz. Und Säuglinge können überhaupt noch nicht warten – sie schreien einfach, wenn sie etwas brauchen oder haben wollen. Warten-Können ist eine Frage der Zeitwahrnehmung – die wird etwa ab dem 3. Lebensjahr immer differenzierter. Vor allem aber hängt es ab von der Selbstkontrolle.

    Das Warten, Erdulden, Ertragen und Aushalten hat ganz verschiedene soziologische und psychologische Dimensionen. Zwar ist Warten eine alltägliche Erfahrung. Aber Warten ist nicht gleich Warten: Da ist der Musiker, der vor der Partitur auf seinen Einsatz wartet. Seine Wahrnehmung ist so geschärft wie die des Jägers auf der Pirsch oder die des Scharfschützen, der seinen Feind ins Visier nimmt. Gläubige warten auf den Erlöser, Flüchtige auf den günstigen Moment. Kinder warten auf ihren Geburtstag oder auf Weihnachten. Ich erinnere mich noch gut, die Zeit vom 1. bis zum 24. Dezember war für mich als Kind eine zauberhafte Zeit – jeden Tag ein Türchen öffnen bis zum grossen Fest. Das Warten war ein Erlebnis und ging wie im Fluge vorbei. So ist für manchen das Warten geschenkte Zeit und die Vorfreude ein Glück. Denn so viel steht fest: Ist das Warten ein Versprechen, an dessen Ende Erfüllung steht, dann fühlt es sich gleich besser an. In der Pandemie hat das Warten eine andere Bedeutung und Dimension bekommen. Gerade wir in der überaus pünktlichen Schweiz, wo alles bis auf die Minute optimal organisiert und durchstrukturiert ist, sind es nicht mehr gewöhnt zu warten – und wenn, dann jeweils nur kurz. Viel von uns sind damit aufgewachsen, dass auf geschäftlicher und staatlicher Ebene alles wie am Schnürchen ohne Verzögerung läuft. Höchste Qualität bei hundertprozentiger Zuverlässigkeit und Termintreue – so die Wettbewerbsvorteile der Schweizer Wirtschaft. Doch Digitalisierung und Kapitalismus haben grosse Interessen daran, uns jeden Anspruch auf Geduld auszutreiben. Jeder Kaufreiz muss oder kann sofort gestillt werden. Nie war es einfacher auf etwas warten zu müssen. Mit dem Smartphone in der Hand können wir jede Minute unseres Lebens bespielen.

    In Corona-Zeiten warten alle darauf, dass das Leben normal, ohne Einschränkungen weiter gehen wird. Das dauert! Ob Klopapier, der ersehnte Corona-Impfstoff oder die Rückkehr zur Normalität – nichts davon kommt über Nacht. Das nervt gewaltig. Die Pandemie diktiert das Tempo und wir müssen uns zähneknirschend fügen – eine ganz neue Erfahrung für die verwöhnten Industrieländer und Kapitalisten. Corona macht das ewige Warten nur schlimmer. Seit Monaten fliesst die unsichtbare Gefahr zäh durchs Leben und stellt alles auf Dauerschleife – kein Ende in Sicht, immer neue Einschränkungen, so wenig Reiz, so viel Ungewissheit, und wir: die ewig Wartenden. Das Warten hat momentan Konjunktur und ein mieses Image. Warten, so die kollektive Erfahrung im westlichen Kulturkreis, gilt als Zumutung. Wer auf die säumige Verabredung oder den freien Tisch im Restaurant oder eben auf das Ende der Pandemie respektive das Umschalten auf Normalbetrieb wartet, der wird ungeduldig, nicht selten ungehalten und aggressiv. Anscheinend funktioniert es nicht, das Warten als geschenkte Zeit zu begreifen, statt sie zu geniessen, wird sie zur Qual. Die Krise fordert unsere Geduld heraus. Wir müssen – ob es uns passt oder nicht – klarkommen damit, dass wir auf ein Ende warten, das noch nicht absehbar ist. Dabei vergessen wir, das Warten eine Kompetenz ist, die wir fürs Leben brauchen. Geduld ist eine Tugend, die uns durchdas Leben trägt. Das Warten-Können ist ein wesentlicher Prozess im Leben. Deshalb: Wenn Sie das nächste Mal warten müssen – atmen Sie durch, nutzen Sie die erzwungene Pause dazu, Ihr Nervensystem zu beruhigen und denken Sie an etwas Schönes und seien Sie dankbar, denn Zeit ist unser wertvollstes Gut!

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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