«Das Schubladendenken ist noch allgegenwärtig»

    An der kürzlichen Behindertensession haben 44 Parlamentarier/innen aus allen Landesteilen teilgenommen. Ihre Forderung: Die Schweiz muss den 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen die volle politische Teilhabe gewährleisten. Diese Botschaft ist angekommen: Zum Ende der Session wurde eine Resolution zur Förderung der politischen Inklusion verabschiedet. Der Nationalratspräsident und die Ständeratspräsidentin haben diese im Namen der Bundesversammlung entgegengenommen. Mit dabei war auch Dr. Barbara Müller. Sie schildert hier ihre Eindrücke.

    (Bild: zVg) Dr. Barbara Müller war an der 1. Behinderten-Session am 24. März im Nationalrat in Bern dabei: «Von Barrierefreiheit sind wir hier in der Schweiz noch weit entfernt.»

    Sie leben mit einer Behinderung (Sehbehinderung und Asperger) und gehören somit zu den 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung leben. Welche Erfahrungen machen Sie mit nichtbehinderten Menschen?
    Dr. Barbara Müller: Dass leider Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung noch weit verbreitet sind. In erster Linie werden oft nur angebliche Defizite der Betroffenen wahrgenommen, kaum je deren Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten und Kompetenzen. Das Schubladendenken ist noch allgegenwärtig.

    Was sind die grössten Einschränkungen im Alltag, die nicht sein müssten?
    Von Barrierefreiheit sind wir hier in der Schweiz noch weit entfernt, ich denke da an Zugänglichkeit zu Gebäuden für Rollstuhlfahrer oder die Internetzugänglichkeit für Sehbehinderte, da Webseiten oft nicht richtig mit Sprachausgaben interagieren. Die inklusive Schule müsste mehr gefördert werden.

    Wie geht die Gesellschaft hier mit behinderten Menschen um und was stört Sie daran am meisten?
    Wie oben schon ausgeführt, die unsäglichen Vorurteile, es fehlt an Offenheit für unvoreingenommene Begegnungen. Menschen mit Behinderungen werden noch zu oft separiert, so beispielsweise in sogenannten Sonderschulen oder geschützten Werkstätten mit Wohnheimen. Die Durchmischung fehlt oft.

    Inklusion ist ein Stichwort. Wieso tut sich die Gesellschaft und die Politik so schwer damit?
    Jahrzehntelang oder noch länger wurden Menschen mit Behinderung separiert. Diese Menschen waren kaum Teil der Gesellschaft. Sie erfuhren Unterstützung durch Pflege, lebten jedoch oft in Institutionen und konnten kaum am alltäglichen Leben (inkl. Zugang zum 1. Arbeitsmarkt) teilnehmen. Es braucht noch viel Öffentlichkeitsarbeit und sichtbare Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben, bis sich in den Köpfen Sichtweisen ändern.

    Was bedeutet für Sie Inklusion?
    Uneingeschränkte Teilhabe am beruflichen, sozialen, politischen Alltagsleben.

    Die vollständige Inklusion hätte einen Umbau bei den Sozialversicherungen zur Folge. Wie würde ein solcher Paradigmenwechsel konkret aussehen?
    Vor allem die IV kann sich so nicht mehr auf die angeblichen Defizite bei der Leistungszusprache abstützen. Auch sogenannte «behinderungsspezifische» Berufstätigkeiten gehören dann der Vergangenheit an und die Auseinandersetzung mit den speziellen Einzelfällen wäre unumgänglich. Das hiesse auch, kompetente Mitarbeiter bei der IV anzustellen und vermehrt auch Menschen mit den identischen Behinderungsarten, wie andere Betroffene unterstützen können.

    Sie sind an der 1. Behinderten-Session am 24. März im Nationalrat in Bern dabei gewesen. Was erwarten Sie, respektive was ist Ihre Vision?
    Dass das Parlament von Menschen mit Behinderung ähnlich wie die Jugendparlamente zur langfristigen Institution wird, solange Menschen mit Behinderungen nicht adäquat in politischen Gremien vertreten sind.

    Welche Bilanz können Sie bezüglich der 1. Behinderten-Session ziehen?
    Die Teilnehmer waren sehr engagiert und auch bereit, sich an politischen Prozessen zu beteiligen und für Wahlen zu kandidieren.

    Wie geht es weiter bezüglich politscher Teilhabe der Menschen mit Behinderung?
    Das ist meines Erachtens noch offen und hängt vom Engagement der Beteiligten ab.

    Wie engagieren Sie sich persönlich weiter in dieser Mission?
    Auch ich werde sicherlich noch für das eine oder andere Mandat kandidieren. Vor allem aber auch mein Netzwerk vergrössern.

    Interview: Corinne Remund


    Zur Person

    Dr. Barbara Müller aus Ettenhausen lebt mit einer Behinderung (Sehbehinderung und Asperger) und ist wissenschaftlich tätig (Dr. sc. nat. ETH, Geologin) und seit 2012 Kantonsrätin im Kt. Thurgau. Sie sieht sich als engagierte Fürsprecherin der Grund- und Menschenrechte, ganz im Speziellen der Behindertenrechtskonvention. So war sie im März 2022 bei den Anhörungen des UNO-Ausschusses bezüglich der Schweiz und der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention hierzulande als Vertreterin von Menschen mit Asperger-Syndrom mit dabei.

    Ihre politische Vision ist klar: «Ein Staat, in dem jeder Bürger, unabhängig von seiner Einkommens- und Vermögenssituation beziehungsweise seiner sozialen Stellung respektiert wird. Dies gilt auch für Menschen mit Behinderung. Es muss selbstverständlich werden, dass wir sie vollständig in unsere Gesellschaft einschliessen, und hierzu gehört auch die uneingeschränkte politische Teilhabe. Diese uneingeschränkte Teilhabe bedingt jedoch eine Abkehr vom üblichen Zerrbild von Menschen mit Behinderung in unserem Lande: Nämlich die Wahrnehmung eines defizitären Wesens, das auf Pflege angewiesen ist. Diese negative Einstellung muss dringend ersetzt werden durch die Akzeptanz von Menschen mit den unterschiedlichsten Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten und Interessen.»CR

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